ACE: Hersteller sollen Bedienfunktionen während der Fahrt reglementieren – Standards vom Staat? Bei Test mit dabei: Der neue Audi A6, der Mercedes CLS und der Fünfer von BMW – allesamt mit Highend-Bediensystemen ausgestattet.
Rundfunk, Mobilfunk, CD/MP3-Spieler, Navigation, Internet: Die Komplexität beim Autofahren nimmt zu. Nicht nur der Straßenverkehr fordert immer mehr Aufmerksamkeit – auch das Auto selbst stellt mit einer stetig wachsenden Zahl von Infotainment-Angeboten andauernd neue Herausforderungen an die hinterm Steuer sitzenden Frauen und Männer. Dabei sollten moderne Assistenz- und Kommunikationssysteme im Pkw eigentlich für mehr Sicherheit und Komfort sorgen. Mitunter bewirken sie aber das Gegenteil. Das hat der ACE Auto Club Europa jetzt in einem groß angelegten Test zusammen mit der Universität Salzburg bestätigt gefunden. Wer beispielsweise einen Gesprächspartner aus dem Telefonbuch seiner Mobilfunkanlage auswählt und anruft, benötigt dafür knapp 48 Sekunden; dabei wechselt der Blick 25-mal zwischen Fahrbahn und Display. Während dessen wird bei Tempo 130 eine Strecke von 1 724 Meter zurückgelegt. Insgesamt 25 Sekunden lang wendet sich der Blick von der Fahrbahn ab, was faktisch 900 Meter „Blindflug“ bedeutet – das ist mehr als die Hälfte der Gesamtstrecke!
Für den ACE sind die neuen Erkenntnisse alarmierend. Der Club, der die Ergebnisse des sogenannten HMI-Tests über die Schnittstelle Mensch-Maschine (Human-Machine-Interface, kurz HMI) am Donnerstag in Stuttgart vorstellte, fordert von den Herstellern Nachbesserungen. Sie seien aus Gründen der Verkehrssicherheit dringend geboten.
Rollende Multi-Media-Center
Autos als rollende Multi-Media-Center sind auf dem Vormarsch. Audi, BMW und Mercedes zählen mit ihren entsprechenden Sonderausstattungen zur Avantgarde auf diesem Gebiet. Doch selbst diese Premiumhersteller dürften an Nachbesserungen nicht vorbeikommen, wenngleich deren Multi-Media-Einrichtungen unter Qualitätsgesichtspunkten und in der Bedienerfreundlichkeit derzeit als das Nonplusultra der automobilen Kommunikation gehandelt werden. Denn MMI, iDrive oder Comand – so nennen sich die jeweiligen Sonderausstattungen – lassen sich ohne gewisse Ablenkung vom eigentlichen Fahrgeschehen nicht bedienen oder gar beherrschen, so die Einschätzung des ACE nach Auswertung der Studie.
Bei besagtem Test mit dabei: Der neue Audi A6, der Mercedes CLS und der Fünfer von BMW. Zwölf Testpersonen fuhren die Fahrzeuge im Rahmen einer „klinischen Untersuchung“ unter wissenschaftlicher Beobachtung. Beispielsweise wurde die Blickrichtung und – dauer der Testpersonen mit Hilfe von speziellen Kameras in einem Verfahren namens Eyetracking erfasst. Alle Probanden mussten mehrere verschiedenartige Aufgaben durchführen – Ziel war es herauszufinden, wie leicht sich die Systeme bedienen lassen und wie groß die Ablenkung während der Fahrt ist, wenn der Fahrer sich auf die Straße und gleichzeitig die Bedienung konzentrieren muss.
Testfahrer zeigen sich überfordert
Erschreckend: Bei allen Testanforderungen richtete sich der kontrollierende Blick der Testfahrer länger auf das Display als auf die Straße.
Die Bedienung der Systeme lenkte die Probanden vom eigentlichen Fahren teils extrem ab. Das simple Einstellen des Radiosenders erwies sich dabei ebenso als Hürde wie die anderen Aufgaben, die während der Fahrt gelöst werden mussten.
Auch Aufgaben, die bei Fahrzeugstillstand durchgeführt werden mussten – dazu zählte unter anderem das Einstellen des Navigationsziels mit dazugehöriger Adresse – verursachten bei Testteilnehmern aufgrund der Komplexität der Bedienung gewisse Probleme.
Bemängelt wurden etwa zu kleine Symbole, Textlastigkeiten im Display, Scroll-Funktionen gegen den Uhrzeigersinn oder kontrastarme Anzeigen sowie Dreh-Drücksteller, deren Bedienung als nicht intuitiv genug empfunden wird.
Folge: Ablenkung vom Fahrgeschehen. Das bedeutet mehrere hundert Meter Blindflug. Im Straßenverkehr ist das hoch gefährlich.
ACE kritisiert digitale Spielhalle im Auto – Zur Not staatliche Standards
Rainer Hillgärtner, Sprecher des ACE, fasste angesichts der Testergebnisse die Forderungen seines Clubs so zusammen:
Erstens: Die Komplexität der Bediensysteme muss begrenzt werden. Statt Anreize zur Ablenkung brauchen wir Sicherheit durch Klarheit, Bedienerfreundlichkeit und Funktionalität. Die Leute wollen sicher unterwegs sein. Dazu beitragen können gemeinsame Bedienstandards wenigstens in den Grundfunktionen. Das Einheits-Piktogramm auf der prominent platzierten Taste für den Warnblinker zeigt, worauf es hierbei ankommt.
Zweitens muss weiter genau untersucht und festgelegt werden, welche Bedien-Aktionen überhaupt während der Fahrt per Hand durchgeführt werden dürfen. Oder ob etwa bei aufwändigen Aktivitäten die Bedienung nur über innovative Lösungen wie eine intelligente Sprachsteuerung erlaubt werden sollte. Es gilt das Prinzip: Vorrang für Verkehrssicherheit. Das Auto als digitale Spielhalle oder als rollendes Büro ist für den Straßenverkehr untauglich.
Drittens sehen wir bei alledem in erster Linie Autohersteller und Zulieferindustrie gefordert. Anders gesagt: Beim Auto der Zukunft darf es durchaus vernünftige Angebote im Bereich Information und Unterhaltung geben. Was aber abzulehnen ist, sind überfrachtete Bediensysteme und damit falsche Kompromisse in punkto Sicherheit.
Viertens, als Ultima Ratio, muss der Gesetzgeber ran, indem er rechtsverbindlich die erforderlichen Sicherheits-Standards für mobile Kommunikationssysteme im Rahmen der Zulassung setzt und zwar für den Fall, dass die Hersteller dazu selbst nicht in der Lage sind.
ace-online.de
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